Dieser Artikel erschien zuerst bei Haufe New Management, am 10. Dezember 2024
Unternehmen rufen ihre Mitarbeitenden zurück ins Büro, Performance Tracking und Reportings erleben eine Renaissance und die damit verbundene Bürokratie, hält uns beschäftigt. Diese Maßnahmen seien jetzt nötig, um aus der Krise zu kommen, sagen viele Unternehmensführungen. Doch die Frage drängt sich auf: Hat uns all das nicht erst in die Krise hineingeführt?
Krisen machen uns zu schaffen
Viele Unternehmen gehen gerade mit harten Ansagen und starren Regeln zurück in alte Muster und befördern Mitarbeitende in den inneren Widerstand. Doch woher rührt eigentlich die kollektive Panik und der direktive Aktionismus? Ganz einfach, wirtschaftlich stehen wir nicht besonders gut da. Allein die Zahl der Insolvenzen war im Oktober 2024 66 Prozent über dem durchschnittlichen Wert der Jahre 2016 bis 2019. (Quelle: WirtschaftsWoche)
Und es sind nicht nur aktuelle Insolvenzen, die erschrecken.
Auch die chemisch-pharmazeutische Industrie als eigentlich starker Wirtschaftszweig, hat zu kämpfen, und die erhoffte Erholung bleibt aus. Stattdessen wird ein Rückgang des Branchenumsatzes um zwei Prozent erwartet. Und wo wir schon bei „starken Wirtschaftszweigen“ sind: Auch unsere einst sichere Bank, die Automobilindustrie, steht mit dem Rücken zur Wand. Statt Innovation und Umsatz, gibt es lediglich Werksschließungen und Stellenabbau.
Wir halten uns an Altem fest, weil wir da wenigstens wissen, was wir haben. Das gibt Sicherheit, auch wenn es völlig bescheuert ist. So sind schon viele Unternehmen in den Untergang gesegelt.
Man hört derzeit nur von wenigen Unternehmen, die nicht Budgets einfrieren, Weiterbildungen streichen oder Stellen abbauen. Da wirkt es fast wie blanker Hohn, noch von einem „Arbeitnehmendenmarkt“ zu sprechen. Ja, uns fehlen vielleicht Fachkräfte, doch gleichzeitig sieht es derzeit nicht mehr so rosig aus, wenn man einen Job sucht, ohne Informatik studiert zu haben. Viele Menschen sind unterbezahlt oder leiden unter schlechten Arbeitsbedingungen, und laut aktuellen Studien sind rund 60 Prozent der Führungskräfte und Arbeitnehmenden gestresst, überfordert und erschöpft. Und die, denen es bis jetzt noch gut ging, die Leistungsfreude empfanden und emotional an ihr Unternehmen gebunden waren, müssen jetzt wieder ohne erkennbaren Sinn ins Büro pendeln, um dort kontrolliert, bürokratisiert und getrackt zu werden. Insgesamt könnte die Stimmung kaum schlechter sein.
Wer sich festhält, kann nicht fallen, oder?
Krisen bewirken, dass wir uns dauerhaft bedroht fühlen. Und wenn wir Gefahr wittern oder Angst erleben, dann flüchten wir uns in altbewährte Denkmuster und Handlungsstrategien zurück. So kitzelt die Wirtschaftskrise den Taylorismus aus den Tiefen unseres Knochenmarks. Denn genau dieses Verständnis von Arbeit steckt hinter den aktuellen Krisenmaßnahmen. Da kommen alte Glaubenssätze wieder hoch, wie „das können wir den Mitarbeitenden nicht zumuten“, „das bekommen sie nicht hin“ oder „das können die Teams nicht selbst entscheiden, das Management muss etwas vorgeben“.
Dahinter steckt die Idee, Menschen könnten nicht eigenständig denken, verantwortungsvoll handeln oder gute Lösungen entwickeln, solange sie keine höhere Führungsposition innehaben (und oft nicht mal dann). Vielmehr sollen sie funktionieren und ausführen, was man ihnen sagt. Passend dazu erlebt der Proximity Bias wieder Hochsaison. Diese kognitive Verzerrung führt dazu, dass wir die Leistung der Menschen, die vor Ort im Büro arbeiten, eher wahrnehmen und besser bewerten. Auch das ist nichts weiter als ein Teil unserer Sozialisation aus längst vergangenen Zeiten einer Industriegesellschaft.
Wir halten uns an Altem fest, weil wir da wenigstens wissen, was wir haben. Das gibt Sicherheit, auch wenn es völlig bescheuert ist. So sind schon viele Unternehmen in den Untergang gesegelt.
Und spätestens hier dürfen wir uns alle angesprochen fühlen. Denn wer hat in Anbetracht der riesigen KI-Welle nicht schon einmal Angst um den eigenen Job gehabt? Wer hat sich nicht immer wieder gute Rechtfertigungen dafür überlegt, warum es die eigenen Aufgaben auch morgen unbedingt noch braucht? Wer war einschneidenden Veränderungen gegenüber nicht besonders skeptisch? Und würde nicht auch unsere Automobilbranche deutlich besser dastehen, wäre sie risikobereiter und offener neuen Technologien und alternativer Antriebe gegenüber gewesen?
Was, wenn wir zwar die schönste Datenschutzerklärung haben, aber wirtschaftlich nicht einmal mehr ein würdiges Schlusslicht darstellen?
Wir halten fest. An unseren heutigen Aufgaben, an analogen Prozessen, an unseren Datenschutzerklärungen, den 80-Seiten-Präsentationen, den überflüssigen Meetings und den staubigen Protokollen. Wir halten fest an Kontrollmechanismen, der Anwesenheitspflicht, Performance Tracking, Bürokratie und dem Verbrennungsmotor.
Wenn wir uns an bestehendem festhalten, könnten wir nicht fallen, glauben viele. Doch was, wenn der zwanghafte Erhalt von Aufgaben zu Überforderung und Krankheit führt? Was, wenn die Organisation, in der wir mit aller Kraft unseren Job verteidigt haben, insolvent geht? Was, wenn wir zwar die schönste Datenschutzerklärung haben, aber wirtschaftlich nicht einmal mehr ein würdiges Schlusslicht darstellen?
Vom Irrglauben an Stabilität
Das Problem mit dem Festhalten ist, dass ihm der Irrglaube von Stabilität zugrunde liegt. Und die gibt es nun mal nicht. Das Wissen der Welt verdoppelt sich aktuell durchschnittlich alle acht Jahre, neue Technologien entstehen über Nacht und futuristische Geschäftsmodelle verändern die Gesetze am Markt. Statt vergangene Zeiten zurückholen zu wollen, müssen wir uns fortbewegen, um mithalten zu können. Selbst wer im Physikunterricht nicht aufgepasst hat, versteht, dass das nicht geht, wenn wir festhalten, sondern dass wir dafür loslassen müssen.
Wer festhält und gleichzeitig von starken Kräften nach vorn getrieben wird, wird immerhin zerrissen. Und genauso fühlen sich derzeit viele Menschen. Während wir immer mehr To Dos haben, kriegen wir immer weniger geregelt. Obwohl wir KI nutzen können, werden wir nicht produktiver, sondern verlieren sogar an Produktivität. Und trotz unseres steigenden Wissens über Mentale Gesundheit, sind Erschöpfung und mentale Belastung zum neuen Standard geworden. Unsere Ressourcen sind verbraucht. Wir haben weder genug Fachkräfte noch genug Energie, um uns weiterhin dieser institutionalisierten Besitzstandswahrungssucht hinzugeben. Der Kollaps unserer arbeitenden Gesellschaft ist angesichts dieser Widersprüche vorprogrammiert.
Radikal loslassen, statt verzweifelt festhalten
Um den großen evolutionären Sprung zu schaffen, den wir jetzt dringend wagen müssen, brauchen wir zwei Dinge, die sich in Organisationen noch viel zu selten finden lassen: Vertrauen und kritisches Denken. Überall dort, wo es an Innovation hapert, Kontrolle als Qualitätsmanagement verkauft wird, Fehler nicht zum Lernen genutzt werden, die Produktivität sinkt und Menschen nicht (mehr) emotional gebunden sind, mangelt es im Kern an diesen beiden Komponenten. Es drängt sich die Frage auf: warum sind sie nicht da?
Wir brauchen zwei Dinge, die sich in Organisationen noch viel zu selten finden lassen: Vertrauen und kritisches Denken.
Während des Taylorismus brauchte es kein Vertrauen. Es gab immerhin kaum Risiken. Alles war bis ins Detail vorgegeben und die Arbeit war linear und eindimensional. Es wurde nicht vertraut, sondern kontrolliert. Und kritisches Denken war nicht gewollt, die Hierarchie gab immer schon vor, wer etwas zu sagen hatte und wer besser schweigen sollte. Das Denkvermögen war sozusagen mit dem Gehalt abgegolten. Wer doch mal kritisch hinterfragte, galt als unbequem oder aufmüpfig und musste um den Job fürchten. Vielen werden diese Umstände bekannt vorkommen. Nicht, weil sie schon damals arbeiteten, sondern weil genau diese Umstände auch heute noch oder wieder sehr verbreitet in Unternehmen sind, auch wenn sie nach außen mit ihren bunten Employer Branding Kampagnen gern etwas anderes darstellen möchten.
Noch wichtiger für unsere Zukunft als Vertrauen oder kritisches Denken allein, ist allerdings die richtige Kombination beider Komponenten. Sie sorgt nicht nur dafür, dass wir leichter loslassen können, sondern auch für mehr Innovationskraft. Das richtige Verhältnis von Vertrauen und kritischem Denken, und die schwerwiegenden Folgen unausgeglichener Verhältnisse, zeigt die Innovative Excellence Matrix.
Die vier Quadranten im Einzelnen:
Fake Work
Wenig Vertrauen und wenig kritisches Denken führen zu sinnloser Scheinarbeit, die zwar das System und seine Anforderungen befriedigt, aber keinen Wert schöpft. Anders gesagt: Wir weisen Aktivitäten nach, ohne Ergebnisse anzustreben. Die Arbeit ist zur Rechtfertigung da. Das passiert zum Teil gewollt, um beschäftigt zu auszusehen und vermeintlich der eigenen Pflicht nachzukommen - wir sichern uns nun mal ab, wenn wir kein Vertrauen haben. Zum Teil entsteht Fake Work aber auch ungewollt, weil Prozesse nie oder nicht ausreichend hinterfragt werden. Entweder, weil nun mal kein Vertrauen da ist, um sie zu hinterfragen, oder weil das kritische Denken nicht etabliert wurde und Menschen es somit schlichtweg nicht gewohnt sind. Sinnlose Meetings, ausschweifende Protokolle und endlose Präsentationen sind typische Fake-Work-Artefakte. Eine solche Organisation hat nicht viel Zukunft.
Default Mode
Viel Vertrauen und wenig kritisches Denken führen dazu, dass nach Gewohnheiten und in eingetretenen Pfaden weitergearbeitet wird. Menschen genießen volles Vertrauen in ihren bestehenden Rollen und Verantwortlichkeiten. Alles ist schön und die Zusammenarbeit konstruktiv, das Unternehmen entwickelt sich jedoch nicht weiter, weil niemand die ganzen Selbstverständlichkeiten, die sich nun mal automatisch anhäufen, hinterfragt. So können auch die vertrauensvollsten Unternehmen schnell sterben.
Covert Undermining
Wenig Vertrauen und viel kritisches Denken bringen verdeckte Fronten und Schattenorganisation hervor. Es bilden sich kleine Gruppen von Gleichgesinnten, die offen miteinander über Missstände sprechen aber nach außen gute Miene zum bösen Spiel machen. Das senkt nicht nur das ohnehin schon niedrige Vertrauen, durch das Missverhältnis entstehen sogar Misstrauen und Verschwörungstheorien. Prozesse werden untergraben und Menschen angezweifelt. Diese Kombination ist der beste Weg in den Abgrund.
Wir dürfen die Verunsicherung durch die Krise als etwas Gutes betrachten, hilft sie uns immerhin zu erkennen, dass wir auf zu viele falsche Sicherheiten setzen.
Innovative Excellence
Viel Vertrauen und viel kritisches Denken führen zu Innovation und gesunder Produktivität. Durch das vertrauensvolle Umfeld entsteht psychologische Sicherheit, in der kritisches Denken nicht bestraft, sondern aktiv gefördert wird. Feedback ist Teil des Arbeitsalltags, Konflikte werden aktiv bearbeitet und die Arbeit regelmäßig gemeinsam hinterfragt. Kontinuierliche Verbesserung und menschliches Wohlbefinden sind die höchsten Werte. Die Energie und alle Ressourcen werden in echte Wertschöpfung investiert und die Organisation kann sich stetig weiterentwickeln. Veränderung erzeugt keine Angst, weil Menschen in das Unternehmen und in ihre Fähigkeiten vertrauen.
Innovative Excellence heißt radikal loslassen
Um in den Quadranten der innovativen Exzellenz zu kommen, müssen wir radikal loslassen. Zum Beispiel unsere Entscheidungsbefugnisse, unsere Macht und unseren Status. Verantwortung wird vertrauensvoll und in großem Stil an Mitarbeitende abgegeben, damit diese sich weiterentwickeln können. Potenziale werden durch Zutrauen entfaltet, statt durch Kontrolle begrenzt. Und wir müssen noch mehr loslassen. Zum Beispiel unsere Gewohnheitsrechte, unsere liebsten Prozesse, unseren Proximity Bias, unsere Glaubenssätze, unsere Befindlichkeiten und unser Kontrollbedürfnis. Und vielleicht auch mal unsere Weeklys, Dailys, unsere Protokolle und Präsentationen. Und vor allem müssen wir den Glauben daran loslassen, dass wir selbst immer die beste Lösung kennen, sondern den Raum für echtes Feedback und konstruktiven Streit um bessere Lösungen öffnen. Und das geht übrigens am besten mit denen, die es wissen müssen. Den Mitarbeitenden.
Wir dürfen die Verunsicherung durch die Krise als etwas Gutes betrachten, hilft sie uns immerhin zu erkennen, dass wir auf zu viele falsche Sicherheiten setzen. Zukunftsfähig - und damit wahrscheinlich so „sicher“ wie heutzutage noch möglich - ist nicht, wer sich an die Vergangenheit krallt, sondern wer bereit ist, sich immer wieder neu zu erfinden.
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